- sozialistischer Realismus
- sozialịstischer Realịsmus,eine Methode der künstlerischen Gestaltung und Kritik in der Literatur, die eng an die marxistisch-leninistische Ideologie gebunden ist; auch übertragen auf andere Künste, v. a. auf die bildende Kunst.Der Begriff sozialistischer Realismus taucht bereits im Umkreis der Literaturdebatten über das Thema Literatur und Proletariat auf, die zwischen dem Ende des Sozialistengesetzes (1890) und dem Beginn des Ersten Weltkriegs in der deutschen Sozialdemokratie stattfanden. Nach den Revolutionen 1917/18 entstand unter dem Einfluss der jungen kommunistischen Parteien eine Literatur der radikalen Linken, die an expressionistischen Formen anknüpfte; ihre Verfasser ließen sich von kommunistischen oder linkssozialistischen Ideen leiten, begriffen ihre künstlerische Arbeit - durch die Wahl der Themen, durch das Bemühen um allgemein verständlicher Aussagen u. Ä. - als Teilnahme am Kampf um revolutionäre Ziele und waren oft auch organisatorisch mit der kommunistischen Bewegung verbunden. In Deutschland nahm die KP durch den 1928 gegründeten »Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller« (BPRS) direkten Einfluss auf die literarische Arbeit. In dieser Phase spielten zwar realistische Kunsttraditionen eine wichtige Rolle, doch waren die Autoren keiner ästhetischen Doktrin verpflichtet. International bedeutende Schriftsteller hatten teil an dieser linken Literatur (so M. Andersen Nexø, H. Laxness, P. Neruda, J. Amado, L. Aragon, B. Brecht), die nur unter Vorbehalt als sozialistisch-realistisch bezeichnet werden kann, nämlich im Kontext der Gesamtentwicklung der Weltliteratur.Der Begriff des sozialistischen Realismus, wie er in den frühen 30er-Jahren in der Sowjetunion als verbindliches Programm für Kunst und Literatur formuliert wurde, steht dagegen im Zusammenhang mit der Ausbildung des sowjetischen Herrschaftssystems unter der Führung Stalins, das auch das geistige Leben dem totalitären Machtanspruch unterstellte. Mit der Auflösung der unterschiedlichen Künstler- und Schriftstellerorganisationen 1932 wurde auch äußerlich die künstlerische Mannigfaltigkeit der 20er-Jahre beendet. Auf dem 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller 1934 wurde der sozialistische Realismus als »Hauptmethode der sowjetischen Literatur und Kritik« definiert und vom Künstler gefordert, die »Werktätigen« im Geiste des Sozialismus umzuerziehen. Leitfigur der Doktrin war M. Gorkij. Sein Roman »Die Mutter« (1907) galt als Modell sozialistisch-realistischer Darstellungsweise. Zu deren Merkmalen wurden erklärt: Volksverbundenheit in Inhalt und Form, der »positive Held«, der als Individuum in typischer Weise den Fortschritt im sozialistischen Sinn repräsentierte und zur Identifikation dienen sollte, die Vermeidung von nicht lösbaren Konflikten als Ausdruck der Überwindung der »Klassenwidersprüche«. Am ehesten konnten alle diese Forderungen im Roman verwirklicht werden. In Anlehnung an die Erzählkunst des 19. Jahrhunderts entstanden auf gesellschaftliche Totalität zielende Aufbau-, Produktions-, Erziehungs- und Geschichtsromane (so von I. G. Ehrenburg, A. A. Fadejew, K. A. Fedin, F. W. Gladkow, L. M. Leonow, A. S. Makarenko, M. A. Scholochow, A. N. Tolstoj, N. A. Ostrowskij). Auch die der deutschen KP nahestehenden Autoren der Arbeiterliteratur waren diesem Konzept verpflichtet.In der bildenden Kunst knüpfte der sozialistische Realismus an die Traditionen der Peredwischniki und der AChRR (Assoziation der Künstler des revolutionären Russlands) an und bereitete einer altmeisterlichen Nationalkunst den Weg. Die gegen den Stilpluralismus gerichtete Doktrin des sozialistischen Realismus wurde zur absolut verbindlicher Richtlinie mit einer kontraproduktiven Genrehierarchie. Es dominierte eine optimistisch-heroisierende, dem Ideal des positiven Helden verpflichtete Monumentalkunst in allen Variationen und Genres. Porträts politischer Führer (v. a. das auf die Person Stalins orientierte Führerbild), Historienbilder, der sozialistische Aufbau, Szenen aus dem Produktionsprozess, der industriellen und bäuerlichen Arbeitswelt sowie sozialistisch-realistische Traditionen der anekdotenhaften und moralisierenden Genremalerei waren bis in die 50er-Jahre hinein bestimmend (Nikolaj A. Andrejew, * 1873, ✝ 1932, Wera I. Muchina, I. I. Brodskij, A. M. Gerassimow, A. A. Deineka, Tatjana N. Jablonskaja, * 1917).Formexperimente waren streng verpönt. Damit wurde die gesamte Moderne, auch die linke, antibürgerliche Avantgarde als »formalistisch« und »dekadent« von der offiziellen Literatur- und Kunstkritik verurteilt. Hatte das Anfang der 30er-Jahre diskutierte Programm noch einen Ausgleich zwischen dem schöpferischen Charakter künstlerischer Arbeit und ideologischer Vorgaben gesucht, wurde es in der Folge zum Vorwand für bürokratische Gängelung und Willkür, Zensur, Ausgrenzungen, Demütigungen und psychischer Terror. Die freiwillige oder erzwungene Selbstkritik nahm groteske Züge an, talentierte Ansätze verkamen zu konformistischer Plattheit. Stalin griff selbst in die Steuerungsprozesse ein und förderte damit den Kult um seine Person. Die Atmosphäre der Einschüchterung und Denunziation (Repressalien waren u. a. die Maler und Grafiker N. Altman, Deineka, R. Falk, H. Vogeler ausgesetzt) gipfelte in Strafprozessen gegen Künstler, die mit Verurteilungen zu Höchststrafen endeten: I. Babel, M. J. Kolzow, O. Mandelstam, W. E. Mejerchold, S. M. Tretjakow und viele andere wurden umgebracht oder verschwanden in Gefängnissen und Straflagern.Bei den Versuchen, der realen Entwicklung der Literatur und Kunst in der Sowjetunion, später in den Ländern ihres Einflussbereichs theoretisch gerecht zu werden, sind aufrichtiges Bemühen um Erkenntnis und Nachgiebigkeit gegenüber parteioffiziellen Vorgaben nicht immer genau zu unterscheiden. Als Maßstab galten einige Texte der marxistischen Theorie, v. a. F. Engels, der 1885 die Darstellung »typischer Charaktere unter typischen Umständen« als charakteristisches Merkmal realistischer Literatur definiert hatte, später Lenins Theorie der Widerspiegelung (in »Materialismus und Empiriokritizismus«, 1909). Die originäre Konzeption von K. Marx, auf die sich z. B. Brecht bezog, rückt den im Produkt seiner Arbeit sich selbst verstehenden, denkenden und fühlenden Menschen ins Zentrum, Kunst wird zwar als Produktion angesehen, aber als eine von äußerer Zweckhaftigkeit entbundene, sie vermag menschliches Leben nicht nur als Gegebenheit, sondern auch in seinen Möglichkeiten zu begreifen. Unter diesen theoretischen Prämissen wurde nach dem XX. Parteitag der KPdSU das Dogma allmählich gelockert, abzulesen zuerst an der Darstellung des Zweiten Weltkrieges, wo das Bedürfnis nach Aufrichtigkeit gegenüber einer schrecklichen Wirklichkeit offenkundig wurde.Seit der »Tauwetter«-Periode (die ihren Namen nach dem Roman von I. Ehrenburg erhielt) entfernten sich die Schriftsteller der Sowjetunion immer mehr von dem gewünschten optomistischen Bild: Erstes bedeutendes Zeugnis dieser die sowjetische Wirklichkeit hart kritisierenden neuen realistischen Literatur war A. Solschenizyns Erzählung »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« (1962), es folgten u. a. die Werke von W. Below, W. Rasputin, W. Schukschin (die »Dorfprosa«), die Romane von T. Ajtmatow, für die die Merkmale des sozialistischen Realismus im ursprünglichen Sinn nicht mehr zutreffen. Dabei wurde die Doktrin nie widerrufen, nur rückte in den theoretischen Diskussionen seit 1957 der Begriff des Realismus in den Vordergrund. In der bildenden Kunst setzte sich ein neuer, engagierter Realismus durch. Seine typischen Ausdrucksformen waren der expressive strenge Stil mit lakonischer Bildsprache (Wiktor Popkow, * 1932, ✝ 1974), der symbolhafte Stil (Michail Sawizkij, * 1922) und der zur Poetisierung neigende romantische Stil (Jablonskaja). Seit Ende der 60er-Jahre bildete sich eine Vielfalt der Themen, Stile und künstlerischen Techniken heraus.In der Musik ging der sozialistische Realismus zunächst von einer Intonationstheorie aus. Der Intonationsbegriff sollte durch Analogie von musikalischen und außermusikalischen Erscheinungen erklären helfen, wie sich die besondere musikalische Widerspiegelung vollziehe und welche Bezüge zwischen emotionaler und sinnhafter Bedeutung in der Musik existierten. G. Lukács, dessen im sowjetischen Exil entstandene Schriften in den theoretischen Diskussionen um die Doktrin eine Schlüsselposition einnahmen, formulierte eine doppelte Widerspiegelungstheorie, eine musikalische »Mimesis der Mimesis«, nach der sich die Außenwelt im Gefühl des Menschen und das Gefühl wiederum in der Musik abbilde. Wichtig in der musikalischen Entwicklung wurde neben den traditionellen Großformen wie der Sinfonie die Entfaltung des proletarischen Massenliedes und unterschiedliche multinationale und multikulturelle Traditionenen der musikalischen Folklore in der Sowjetunion. Wie schwankend allerdings dieser musikalische sozialistische Realismus gehandhabt wurde, zeigt das Beispiel D. D. Schostakowitschs, dessen Werk in den 30er- und 40er-Jahren teils als abstrakt-formalistisch verdammt, teils als stalinpreiswürdig gefeiert wurde.In der SBZ beziehungsweise später in der DDR wurden - nach einer kurzen Phase einer nur vom Antifaschismus geprägten Literatur - die Vorgaben der sowjetischen Kulturpolitik bindend, personifiziert v. a. durch A. A. Schdanow, organisatorisch vorbereitet in der Spaltung des deutschen P.E.N.-Zentrums und der Gründung separater Organisationen. Das 5. Plenum des ZK der SED (1951) erhob den sozialistische Realismus zur bestimmenden Richtung in Kunst und Literatur und sagte »Dekadenz«, »Formalismus« und »Kosmopolitismus« der Kampf an; die aus dem Exil zurückgekehrten Künstler wurden gemaßregelt, wenn sie zögerten, den Aufbau in Ostdeutschland aus der Sicht der SED (als »das Neue«) darzustellen. Auch Brecht, der versuchte, den Begriff des sozialistischen Realismus neu zu formulieren, den Komponisten H. Eisler und P. Dessau sowie zahlreichen Malern und Grafikern (u. a. Carl Crodel, * 1894, ✝ 1973, Horst Strempel, * 1904, ✝ 1975, A. Mohr) wurde Formalismus vorgeworfen (Formalismusdebatte). Für viele Künstler entstand ein »anhaltender Konflikt zwischen befohlenem und gewolltem Sozialismus... Er führte zu abgebrochenen künstlerischen Biographien, zum Exodus in mehreren Wellen, zu Widersprüchen im Werk, trieb auch Widerstand hervor gegen die verlangten optomistischen Platitüden, gegen den Naturalismus, gegen die verordnete Absage an die Moderne« (Harald Olbrich).Was der Begriff durch seine Institutionalisierung an administrativer Verbindlichkeit gewann, verlor er an Anziehungskraft für schöpferische Künstler. Die Mitgliedschaft in Verbänden war allerdings Bedingung für die Anerkennung beruflicher Professionalität (und damit für die Existenzsicherung). Schriftsteller mit Interessen an theoretischer Reflexion artikulierten ihre Ansichten abseits offizieller ideologischer Überzeugungen, zunehmend in Opposition zu ihnen (F. Fühmann, V. Braun, Christa Wolf u. a.). Der Versuch, durch den Bitterfelder Weg die Umsetzung der Doktrin zu befördern, brachte nur wenige künstlerisch interessante Arbeiten hervor. Zwar wurde der Begriff in der offiziellen Kritik auch noch für einige Werke der Gegenwartsliteratur angewandt (etwa von Anna Seghers und H. Kant), doch waren seit Ende der 60er-Jahre nur wenige Autoren bereit, sich an den von der SED gesetzten Kriterien zu orientieren. Die Publikationsverbote, die durch die bis Anfang 1989 praktizierte Zensur ausgesprochen wurden, bezogen sich meist auf direkte Regimekritik, weniger auf Gestaltungsweisen. In der bildenden Kunst zeigte sich die Distanz zur ideologischen Inszenierung in einer zunehmend individuellen Wirklichkeitsreflexion (u. a. W. Mattheuer; Sighard Gille, * 1941; H. Ebersbach; T. Wendisch; J. Böttcher, Doris Ziegler). Sie brachte eine künstlerische Pluralität hervor, die jedoch bis Ende der 80er-Jahre trotz proklamierter »Weite und Vielfalt« (6. Plenum des ZK der SED, 1972) auch im Künstlerverband mit Argwohn beobachtet wurde und zu heftigen Auseinandersetzungen führte.Bis zum Ende des realen Sozialismus blieb in allen davon betroffenen Ländern — wenn auch in unterschiedlicher Ausgeprägung - zwischen den künstlerischen Prozessen und der machtkonformen Ideologie eine tiefe Kluft.Dokumente zur sowjet. Literaturpolitik. 1917-1932, bearb. v. K. Eimermacher (1972);R.-D. Kluge: Vom krit. zum s. R. (1973);Sozialist. Realismuskonzeptionen, hg. v. Hans-Jürgen Schmitt u. a. (1974);E. Możejko: Der s. R. Theorie, Entwicklung u. Versagen einer Literaturmethode (1977);Zw. Revolutionskunst u. s. R., hg. v. H. Gassner u. a. (1979);K. Thomas: Die Malerei in der DDR 1949-1979 (1980);M. Damus: S. R. u. Kunst im Nationalsozialismus (1981);M. Damus: Malerei der DDR. Funktionen der bildenden Kunst im realen Sozialismus (1991);H. Siegel: Sowjet. Literaturtheorie, 1917-1940 (1981);Zeitvergleich. Malerei u. Graphik aus der DDR, bearb. v. A. Hecht u. a., Ausst.-Kat. (1982);H. Günther: Die Verstaatlichung der Lit. Entstehung u. Funktionsweise des sozialistisch-realist. Kanons in der sowjet. Lit. der 30er Jahre (1984);B. Groys: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion (a. d. Russ., 1988);Literaturtheorie u. Literaturkritik in der frühsowjet. Diskussion, hg. v. A. Hiersche u. a. (Berlin-Ost 1990);M. C. Bown: Kunst unter Stalin. 1924-1956 (1991);Agitation zum Glück. Sowjet. Kunst der Stalinzeit, hg. v. H. Gassner u. a., Ausst.-Kat. Dokumenta-Halle, Kassel (1994);H. Kneip: Regulative Prinzipien u. formulierte Poetik des s. R. Unterss. zur Lit.-Konzeption in der Sowjetunion u. Polen 1945-1956 (1995).Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:Sozialistischer Realismus in der bildenden Kunst: Arbeiterhelden und TraktorenSozialistischer Realismus in der Literatur
Universal-Lexikon. 2012.